Auf dem Gipfel.
Die alte Milchkanne war aus Aluminium und hatte einen Henkel aus Draht mit einer Holzrolle zum Tragen daran. Meine Mutter zählte die Münzen hinein und schickte mich mit ermahnenden Worten, das Geld nicht zu verlieren, zum Einkaufen. Auf der Treppe, hinunter auf die Straße, tönten die Münzen am Blech, doch vor dem Haus hörte man nichts mehr. Von Fliehkraft wusste ich noch nichts, doch wenn ich am langen Arm die Kanne in die Runde schwenkte klebten die Münzen am Boden und das machte mir großen Spaß.
Der Winter hatte viel Schnee gebracht, im Rinnstein lag er hoch aufgetürmt. Eine weiße Wand über die ich nur mit Hopsen hinüberblicken konnte. An irgendeiner Stelle der Straße musste ich auf die andere Seite. Dafür wurde natürlich der höchste Gipfel des Schneegebirges ausgesucht. Oben angekommen geschah etwas ganz Außergewöhnliches.
Auf einmal war mir so leicht, so schwebend, so durchdrungen von wohligem Gefühl, nur ein kleines Wippen mit den Zehen, zum Abheben, würde genügen und ich könnte Fliegen.
Es wird nicht lange gedauert haben bis sich die Ratio einblendete, mich im Schneematsch der Straße liegen sah mit wohl möglich noch blutender Nase dazu. Also Abstieg, in die Niederungen des gewöhnlichen Daseins.
Im Geschäft angekommen entnahm die Verkäuferin der Kanne das Geld und füllte dafür den Gegenwert in Milch ein. Auf dem Nachhauseweg wurde wieder, mal vorwärts mal rückwärts schwenkend, die Fliehkraft gefesselt. Es geschah kein Missgeschick, die Kanne heil und ohne auch nur einen Tropfen verschüttet zu haben übergab ich stolz den Einkauf meiner Mutter.
Nun bin ich 70jährig und dieses Kindheitserlebnis ist mir nie aus dem
Sinn gegangen. Es war ein so überwältigendes, schönes Empfinden, dass ich denke:
Nur ein kleines Wippen mit den Zehen und ich hätte fliegen können.
Phil Sternpark
15.12.2010